Fränzi

Eine Erinnerung

Wir waren noch Kinder.

Fränzi hiess eigentlich Francesco, aber wir nannten ihn nur Fränzi. Weil er ein Schwächling war, der bei jeder Kleinigkeit zu heulen anfing wie die Sirene auf dem Schulhausdach. Im Schulzimmer wollte niemand neben Fränzi sitzen. Im Turnunterricht blieb er immer als letzter übrig, wenn die Mannschaften für Laufstafetten oder Völkerball gewählt wurden. Fränzi hiess Francesco, weil seine Mutter aus Italien kam. «Francesco, vieni qua!», brüllte sie vom Balkon in den Hof hinunter, wenn Fränzi draussen spielte und das Abendessen auf dem Tisch stand. Meistens gab es Spaghetti mit Hackfleischsauce. Weil ich Hackfleisch liebte wie sonst fast nichts, hätte ich mich einmal fast mit Fränzi angefreundet. Ich traute mich dann aber doch nicht. Es ging das Gerücht, dass das Hackfleisch bei Fränzis aus Katzenfleisch gemacht sei. Viele glaubten das, denn immer wieder verschwanden Katzen in unserer Strasse und kamen nie mehr zurück. Und man weiss ja, dass die dort unten in Italien Katzen fressen.

Was wir auch wussten, war, dass bei Fränzis die Mutter die Hosen anhatte, und nicht der Vater. Zuhause hatte Fränzis Vater nichts zu sagen, das war klar. Einkaufen war die Arbeit der Hausfrauen. Aber nicht bei Fränzis. Nein, nein! Immer wieder sah man den Vater im Volg, beim Metzger Hotz oder in der Bäckerei von Frau Denzler. Die Frauen in unserem Quartier hatten Mitleid mit dem Mann, trauten ihm aber auch nicht so ganz über den Weg. «Der verschwindet doch, wann immer er kann, und hockt dann in den Wirtschaften herum und trinkt», tuschelten sie. In unserem Quartier war man froh, dass es Dr. Schwarzenbach gab, der nicht nur redete wie die anderen Politiker, sondern endlich etwas gegen diese «primitiven Tschinggen» tat.

Wir Buben mochten Fränzis Vater. Er war Lastwagenfahrer und manchmal wochenlang in fremden Ländern unterwegs. Er war ein freundlicher Mann mit Muskeln wie riesigen Kartoffeln an den Armen. Und er mochte die Kinder. Er lachte viel und konnte alles flicken. Einmal reparierte er den Rundlauf im Hof, auf dem wir uns gerne drehten, bis wir so schwindlig wurden, dass wir fast herunterfielen. Wenn Fränzis Vater in den Hof kam, liessen wir auch Fränzi mitspielen. Fränzis Vater war cool, von Fränzis Mutter aber hatten wir Angst. Sie war immer schlecht gelaunt und fluchte wie ein Mann. Die Frau war gefährlich. Darum liessen wir Fränzi in Ruhe, wenn sie in der Nähe war.

Einmal jagten wir Fränzi durch die Siedlung. Wir schrien, jauchzten und trieben ihn vor uns her, wie die Indianer einen verschreckten Büffel durch die Prärie. Fränzi rannte um sein Leben. Wir liessen erst von ihm ab, als in der Nähe ein fürchterlicher Lärm losging. Es schepperte und klirrte und tönte gerade so, als wäre eine ganze Glasfabrik zusammengestürzt. Fränzi interessierte uns nicht mehr. Hinter den Häusern stand die offene Lagerhalle des Getränkehändlers Inderbitzin. Wir rannten hin und schlichen uns auf das Gelände. Als wir beim Lager ankamen, war alles wie immer. Kein Chaos, keine Scherben, keine herumliegenden Fläschchen mit Vivikola und Orangina, wie wir heimlich gehofft hatten. Der einzige Arbeiter auf dem Gelände hockte auf einem Bierkasten, rauchte und blätterte in einer Zeitschrift für Erwachsene.

Am Abend klingelte es an der Wohnungstür. Ich hörte, wie über mich gesprochen wurde. Dann erkannte ich die Stimme und bekam einen Schweissausbruch. Meine Mutter rief mich zu sich an die Tür und fragte scharf, ob ich etwas zu berichten hätte. Die Italienerin sprach kein Wort. Sie starrte mich nur an und schaute dabei so finster, dass ich wieder an die Katzen und das Hackfleisch denken musste. Fränzi hatte sie auch mitgebracht. Ein zitterndes Häufchen Elend, von Kopf bis Fuss in Verbandszeug eingepackt.

Der Tag, an dem Fränzi in Panik durch die geschlossene Glastür in sein Haus rannte, war kein guter Tag. Mein Sackgeld wurde gestrichen und Fränzi zu ärgern, machte fortan auch keinen Spass mehr.

Dr. Schwarzenbach und die Mehrheit unserer Wohnsiedlung verloren ein paar Wochen nach dem Unfall die Abstimmung gegen das, was sie ‘Überfremdung’ nannten. Fränzis Familie zog bald darauf in ein anderes Dorf. So verloren wir uns aus den Augen. Zwanzig Jahre später las ich zufällig im Sportteil der Zeitung über ihn. Francesco hatte gerade einen internationalen Titel als Boxer gewonnen.