Eine Kindheitserinnerung, 1970

Fränzi hiess eigentlich Franco. Wir nannten Franco aber nur Fränzi. Weil Franco so lächerlich war. Fränzi war dick. Fränzi war kleiner als wir. Und Fränzi war dumm und schlecht in der Schule. Fränzi heulte die ganze Zeit, plärrte wie ein Mädchen. Mädchen interessierten elfjährige Buben nicht. Fränzi war natürlich nicht wirklich ein Mädchen. Fränzi war ein Tschingg. Seine Mutter kam aus Italien und sprach mit Fränzi italienisch. Fränzi konnte Italienisch. Wir hassten Italienisch. In der Schule wollte niemand neben ihn sitzen. In der Turnstunde war er der letzte, der in die Völkerballmannschaft eingeteilt wurde und der erste, der das Spiel wieder verliess, weil er so langsam war, und immer sofort von den Bällen getroffen wurde. Natürlich war es Fränzi, auf den man es als Ersten abgesehen hatte. Fränzi war eine leichte Beute.
«Franco, vieni qua!», brüllte seine Mama vom Balkon im dritten Stock in den Hof hinunter, wenn Fränzi dort spielte und das Essen auf dem Tisch stand. Meistens kochte Fränzis Mutter Spaghetti mit Hackfleischsosse. Spaghetti mit Hackfleischsosse war damals auch mein Lieblingsessen. Deshalb hätte ich mich einmal fast mit Fränzi angefreundet. Ich traute mich dann aber nicht. Ich
hatte gehört, dass das Hackfleisch bei Fränzi aus Katzenfleisch gemacht sei. Viele glaubten das, denn immer wieder verschwanden Katzen in unserem Quartier und kamen nicht mehr zurück. Und alle wussten, dass die Tschinggen Katzen fressen. Ich selber wusste es von meinem Freund Urs, und der wusste es von seinem Vater. Urs’ Vater war Polier auf dem Bau, wo es viele dieser komischen Italiener gab.
Wir wussten ausserdem, dass bei Fränzis zuhause die Mutter die Hosen anhatte, und nicht der Mann. Immer wieder sah man Fränzis Papa im Volg, beim Metzger Hotz oder in der Bäckerei von Frau Denzler. Männer brachten das Geld nach Hause. Einkaufen war Frauensache. Die Hausfrauen in unserem Quartier steckten die Köpfe zusammen und kicherten, wenn sie ihn im Volg beim Einkaufen sahen. «Schaut her, da ist er wieder. Die Hexe hat ihn wieder losgeschickt.», tuschelten sie. Dabei schwärmten sie heimlich für den grossen Mann mit Muskeln an den Oberarmen, die grösser waren als der Blumenkohl in ihren Einkaufskörben. Viele der eigenen Männer dieser Frauen in unserem Quartier waren froh, dass es Dr. Schwarzenbach gab, der bald Schluss machen würde mit diesen Zuständen und den Fremden im Land, und nicht nur schön daherredete wie die anderen Politiker.
Wir Buben mochten Fränzis Vater, denn Fränzis Vater mochte Kinder. Er war Lastwagenfahrer und oft wochenlang in fremden Ländern unterwegs. Wenn er zuhause war und manchmal in den
Hof kam, liessen wir auch Fränzi mitspielen. Einmal reparierte Fränzis Vater den Rundlauf im Hof, auf dem wir uns gerne drehten, bis es uns so schwindelig war, dass wir fast abgeworfen wurden.
Fränzis Vater war cool. Aber von Fränzis Mutter hatten wir Angst. Sie redete immer viel zu laut und fluchte wie ein Mann. «Smettetela, porca miseria! Non toccate mio figlio o scendo!”. Die Frau war gefährlich. Darum liessen wir Fränzi in Ruhe, wenn sie in der Nähe war.
Einmal jagten wir Fränzi um die Häuser. Wir schrien, jauchzten und trieben ihn vor uns her, wie die Indianer einen verschreckten Büffel durch die Prärie. Fränzi rannte um sein Leben. Wir liessen erst von ihm ab, als in der Nähe ein fürchterlicher Lärm losging. Es schepperte und klirrte gerade so, als wäre eine ganze Glasfabrik zusammengestürzt. Fränzi interessierte uns nicht mehr. Hinter den Häusern stand die riesige Anlage des Getränkehändlers Inderbitzin. Wir rannten hin und schlichen uns auf das Gelände. Es war alles wie immer. Keine umgestürzten Harassen, keine Scherben, keine herumliegenden Fläschchen Pepsi, wie wir gehofft hatten. Der einzige Arbeiter, den wir erspähen konnten, hockte auf einem Bierkasten, rauchte und blätterte in einer Zeitschrift für Erwachsene.
Am Abend klingelte es an der Tür. Ich hörte, wie über mich gesprochen wurde. Ich erkannte die Stimme und bekam Angst. Meine Mutter rief mich zu sich. Ob ich etwas zu berichten hätte. Die Italienerin vor der Türe sprach kein Wort. Sie starrte mich nur an und schaute dabei so böse, dass ich wieder an die Katzen und das Hackfleisch denken musste. Fränzi hatte sie auch mitgebracht, von Kopf bis Fuss in Verbandszeug eingewickelt.
Der Tag, an dem Fränzi in Panik durch die geschlossene Glastür in sein Haus rannte, war kein guter Tag. Mein Sackgeld wurde gestrichen und Fränzi zu ärgern, machte danach auch keinen Spass mehr.
Dr. Schwarzenbach und die meisten Männer in unserer Wohnsiedlung verloren ein paar Wochen nach Fränzis Unfall die Abstimmung gegen das, was sie ‘Überfremdung’ nannten. Die Frauen durften noch nicht abstimmen. Fränzis Familie zog bald darauf in ein anderes Dorf. So verloren wir uns aus den Augen. Viele Jahre später las ich im Sportteil der Zeitung über ihn. Franco, der Tschingg, der Schwächling, war gerade Schweizermeister im Boxen geworden.