Sottoceneri Blues

Bild: Lopetz, Bern

Am Bahnhof Mendrisio, weit unten im Sottoceneri, ist nicht viel los. Es gibt einen Billettschalter, der meist geschlossen ist und auf dem Perron Eins stehen ein paar Schliessfächer. Aus einem Automaten können nebst Cola und Waffeln auch Kondome und Schwangerschaftstests gezogen werden. Die meisten Schnellzüge fahren durch. Mendrisio ist eine Bahnstation, wie sie einst von Mani Matter besungen wurde.

Der erste Intercity am frühen Morgen nach Zürich hält. Mendrisio ab, sechs und dreizehn. Ein klassischer Pendlerzug. Zwischenstopps in Lugano, Bellinzona, Art-Goldau und Zug. Vornehme Direktoren, einfache Angestellte, gestandene Professorinnen, verschlafene Studenten, Kreative und Soldaten, Millionäre und Habenichtse sitzen Auge in Auge, Schulter an Schulter. Auf der Strecke sind alle gleich. Man ist sich so nahe, dass die Nase einem sagt, mit wem man auch länger fahren könnte und mit wem lieber nicht. Schon ganz kurz nach der Abfahrt in Mendrisio drosselt der Lokführer die Geschwindigkeit. Mein Kaffeebecher rutscht über das Tischchen, fällt aber nicht runter. Draussen kommt uns aus der Gegenrichtung ein Regionalzug entgegen.

Es ist noch nicht lange her, als in Lugano regelmässig auch ein Nationalrat zustieg. Seit er in den Bundesrat aufgestiegen ist, habe ich ihn nicht mehr gesehen. Es heisst, er fahre jetzt nicht mehr Bahn. Damals aber nahm er gerne Anrufe im Zug entgegen. Lautes Telefonieren kann meine gute Laune aus der Bahn werfen. Deshalb machte ich mir manchmal einen Spass daraus, aufmerksam mitzuhören und mitzuschreiben. Die Methode beruhigt, ermöglicht Einblicke und beflügelt die Fantasie. Das Protokoll eines Gesprächs habe ich noch irgendwo. Der Lokführer hat den Zug gestoppt. Die S10 nach Bellinzona überholt uns. Mendrisio ab, sechs Uhr fünfunddreissig.

In der Zeitung sehe ich das Bild eines Managers, der oft in Lugano zusteigt und mit dem ich bekannt bin. Vor langer Zeit hatten wir miteinander zu tun gehabt. Damals hatte er mich eines Tages angerufen, weil er den jungen Deutschschweizer Journalisten kennenlernen wollte, der neuerdings über das Tessiner Geschehen berichtete. Den Manager kannte die ganze Schweiz, er hatte gerade ein grosses Fest zum runden Geburtstag der Eidgenossenschaft veranstaltet. Ich war skeptisch und befürchtete, dass er mich beeinflussen wollte. Stattdessen hiess er mich tags darauf auf der Terrasse des Hotels Giardino in Ascona herzlich wie niemand sonst willkommen in seinem Kanton und bot mir seine Unterstützung an, wann immer ich sie brauchen würde. Dann plauderten wir über die Prominenz, die sich auf ihrer Suche nach Inspiration und südlichem Ambiente schon immer gerne im Tessin niedergelassen hatte. Draussen überholt uns ein Güterzug mit zwei Lokomotiven. Ich zähle die angehängten Wagen. Eine Lautsprecherdurchsage bringt mich aus dem Konzept.

Viele dieser berühmten Zugewanderten, erklärte mir der Manager damals, zum Beispiel Bakunin, Tucholsky, Frisch oder Highsmith, trauten sich zwar über den Gotthard, bogen aber vor dem Monte Ceneri rechts ab. Einer der wenigen, die sich weiter in den Süden wagten, war Hermann Hesse. Das Leben am milden Lago Maggiore und in den Tälern des Sopraceneri ist einfach, das Gemüt der Einheimischen ähnlich wie überall im Schweizer Berggebiet. Im Sottoceneri aber, wo man in der Höhe bei günstigem Wetter den Dom von Mailand in der Sonne glitzern sehen kann, sind die Leute emotionaler, lauter, italienischer. Das ist auf Dauer nicht jedermanns Sache. Bis heute ist der Monte Ceneri das eigentliche pièce de résistance für die Anbindung des Tessins an die Schweiz geblieben. Längst fahren die Züge am Gotthard durch den Basistunnel. Den Ceneri müssen sie immer noch über die Bergstrecke bezwingen. Wir werden wieder überholt. Und wieder von einer S10. Mendrisio ab, sechs Uhr dreiundvierzig.

Am Zugersee überfällt mich manchmal ein Hauch von Traurigkeit. Ich vermisse den Franzosen, mit dem ich mich hier hin und wieder unterhalten hatte. Ein gebildeter, höflicher Mensch. Dass er auch ein harter Finanzer war, einer aus der Topliga, wusste ich damals nicht. Erst später habe ich erfahren, wer er war, dass er nicht mehr lebte und wie es passiert war. In Deutschland haben sie später einen Film über ihn gedreht. Das Haus, in dem er gewohnt hatte, liegt direkt an der Bahnlinie. Bei der Vorbeifahrt versperrt es für eine Sekunde den Blick auf den See.

Weitere Züge sind an uns vorbeigefahren. Zuletzt der Intercity nach Basel. Mendrisio ab, sieben Uhr dreizehn. Ich schaue auf die Uhr. Über Lautsprecher werden wir um Verständnis gebeten, dass unser Zug infolge einer Störung nicht weiterfahren kann und nach Mendrisio zurückgestossen werden muss. Wo ich mir an diesem sonnigen Montagmorgen erstmal eine Cola und eine Waffel aus dem Automaten ziehen werde.

-> Dieser Text erschien in dem Buch „dazwischen – Pendlergeschichten“, 2020,
Herausgeberin: border-crossing.ch, Bern,